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Leben im Krieg: das Mutter-Kind-Zentrum in Liubotyn
Liubotyn ist eine kleine Satellitenstadt in der Region Kharkiv, in der Ukraine. Noch vor dem Krieg entstand hier ein "Mutter-und-Kind-Zentrum", das nun aus der Besatzungszone geflüchteten Müttern mit ihren Kindern Aufnahme gewährt.
Vor dem Krieg hätten es sich die Mitarbeiter:innen des Mutter-Kind-Zentrums in Liubotyn nicht einmal im Entferntesten vorstellen können, einmal vertriebene Frauen und ihre Kinder aufzunehmen. Und mit Ausbruch des Krieges dachten sie zunächst, Liubotyn wäre gar nicht unmittelbar bedroht. Doch im Frühling des Vorjahres wurden sie eines Besseren belehrt. Der Krieg erreichte die Stadt, es gab schwere Angriffe, Granaten schlugen in der Nähe des Mutter-Kind-Zentrums ein.
„Wir mussten mitten in der Nacht alle zusammenpacken ‒ wir hatten auch kranke Babys dabei ‒ und uns im Keller verschanzen.“
Im Mutter-Kind-Zentrum finden nun auch Mütter mit größeren Kindern Schutz
Den Mitarbeiter:innen gelang es, mehrere Frauen, deren Geburt knapp bevorstand und die zum Teil schon in den Wehen lagen, in den Westen der Ukraine zu evakuieren. Maryna Kravchenko erzählt: „Die meisten Frauen wollten bleiben. Und unsere Mitarbeiter:innen blieben ebenfalls, obwohl sie sich mit ihren Familien in Sicherheit hätten bringen können. Meine Leute waren teils 24 Stunden am Tag im Einsatz und wussten nie, ob und wann sie nach Hause zurückkehren konnten.“ In den ersten Tagen gab es kaum Lebensmittel. Die Mitarbeiter:innen des Zentrums standen wie alle Bewohner:innen von Liubotyn Schlange vor der Apotheke und den Geschäften, um die Mütter und ihre Kinder mit dem Notwendigsten zu versorgen. Als im Mai die Bombardierung aufhörte, nahm das Zentrum neue Gebärende auf und öffnete seine Pforten erstmals auch für Mütter mit größeren Kindern, die ihr Zuhause verloren hatten.
Maryna fasst zusammen: “Jetzt haben wir hier also nicht nur Mütter mit Neugeborenen und Babys, sondern auch solche mit Klein- und Schulkindern und mit Jugendlichen, darunter auch Frauen mit vielen Kindern. Nach wie vor fällt häufig der Strom aus, aber wir können uns dennoch warm halten, weil wir Generatoren haben. Einzig beim Auftauen und Warmmachen von Muttermilch und Babynahrung haben wir oft Probleme, denn wir haben nur einen E-Herd. Zum Glück hat uns jemand einen Gas-Campingkocher zur Verfügung gestellt, der hilft uns über die heikelsten Situationen.“
Unterstützung von Außen sichert die Lebensgrundlage
Marina Kravchenko ist den vielen Menschen, die ihre Einrichtung und damit ihre Schützlinge unterstützen, unendlich dankbar. Sie weiß, wie schwierig es ist, in Kriegszeiten an Ressourcen heranzukommen. Umso mehr weiß sie die vielen Spenden an Windeln, Babynahrung und Lebensmitteln zu schätzen. „Aber wir brauchen noch mehr. Es kommen immer mehr Menschen zu uns, die warme Winterkleidung benötigen und kleine Kommoden oder Schränke, in denen sie ihr wenig Hab und Gut unterbringen können. Die Vertriebenen müssen sich hier einrichten, denn es wird Monate dauern, bis sie wieder an eine Zukunft außerhalb unseres Zentrums denken können.“, fasst Maryna die Situation zusammen. Das Mutter-Kind-Zentrum braucht auch eine zweite Waschmaschine. Die Gegenwärtige funktioniert mehr schlecht als recht und Familien mit kleinen Kindern waschen viel. Auch eine Mikrowelle zum Aufwärmen von Essen wäre hilfreich.
Switlana und Egorka
Der kleine Egorka ist hin und her gerissen. Mal umarmt er seine Mutter und drängt sich Schutzsuchend an sie, mal rückt er von ihr ab, um seine Selbständigkeit zu demonstrieren. Er hat für seine jungen Jahre schon allzu viel gesehen. Der Krieg hat die Kinder in der Ukraine dazu gezwungen, vorzeitig erwachsen zu werden. Oder zumindest so tun, als wären sie es. Wie es in ihren kleinen Seelen aussieht, steht auf einem anderen Blatt.
Egorka und seiner Mutter gelang erst im Juni des Vorjahres die Flucht aus der Besatzungszone. Ihr Heimatort, ein kleines Dorf im Bezirk Kupjansk, steht derzeit beinahe täglich unter Beschuss. Schule, Verwaltungsgebäude, Privathäuser ‒ alles ist zerstört. Sechs Monate lang war das Dorf besetzt und seine Bewohner:innen brutalen Angriffen ausgesetzt.
Flucht nach Liubotyn
Switlana erzählt von ihrer Flucht über den so genannten grünen Korridor, dem einzigen „Weg ins Leben“ in der Region Kharkiv. Sie wussten, dass sie ihr Dorf verlassen mussten, denn ohne dessen Befreiung durch die ukrainischen Streitkräfte, würde Russland dort präsent bleiben. Und sie wollten nicht in Russland leben, also war ein „Umzug“ ihre einzige Chance. In privaten Transportern passierten Switlana und Egorka die russischen Kontrollpunkte. Man hatte ihr zuvor gesagt, ein solcher „Umzug“ würde nichts kosten. Am letzten Kontrollpunkt sollte sie jedoch plötzlich umgerechnet 125 Euro zahlen. Das ist viel Geld in Switlanas Dorf, es übersteigt das durchschnittliche Monatseinkommen dieser Menschen. Doch Switlana hatte nur eine kleine Tasche mit Egorkas Kleidung dabei, kein Geld. Erst nach langem Bitten und Betteln ließ man die beiden schließlich passieren. Ukrainische Freiwillige geleiteten sie nach Kharkiv, doch damit war die Tortur noch lange nicht zu Ende. Wo sollten sie unterkommen? Ohne Verwandte oder Bekanntschaft in der großen Stadt, ohne Geld? Sie setzten sich schließlich auf den Gehsteig, mit dem Rücken an eine Hausmauer. „Es herrschte Ausgangssperre, die Sirenen heulten und wir hatten große Angst.“, erinnert sich die junge Mutter. Schließlich erzählte ihr eine Frau vom Mutter-Kind-Zentrum in Liubotyn und gab ihr die Telefonnummer.
„Ich rief an und die Direktorin Marina Vasylivna holte uns persönlich ab. Und obwohl mein Egorka schon lange kein Baby mehr ist, nahm man uns auf und versorgte uns. Wir erhielten warme Kleidung und Decken, Essen. Im Moment sind diese Menschen hier unsere zweite Familie geworden und das Zentrum in Liubotyn unser zweites Zuhause.“
Tamara und Anastasia
Sechsmal versuchten Tamara und ihre Tochter Anastasia, das besetzte Tschkalowske im Bezirk Tschuhujiw zu verlassen. Sechsmal wurden sie an den Kontrollpunkten von Russen aufgehalten und zur Besatzung zurückgeschickt.
Tschkalowske ist eine große Gemeinde in der Region Kharkiv. Es umfasst mehrere Dörfer und beheimatet 14.000 Einwohner:innen und war für die Besatzer von strategischer Bedeutung. Eine Straße führt am Militärflugplatz und dem Militärstützpunkt vorbei direkt nach Kharkiv. Wenige Tage nach Kriegsbeginn wurde Tschkalowske daher schon besetzt und erst im vergangenen September befreit. Doch die Besatzer wussten nicht wohin und blieben. Die Einheimischen lebten somit quasi an der Frontlinie und in permanenter Angst vor Granatenbeschuss.
Ständig fiel der Strom aus, Lebensmittel wurden knapp. Anfangs verteilte die Dorfverwaltung kostenlos Lebensmittel wie Milch und Fleisch an die Menschen. Selbst einkaufen zu gehen, ging nicht, auf der Bank Geld abzuheben, ein Ding der Unmöglichkeit. Die Preise stiegen um ein Vielfaches.
“Es war sehr gefährlich auf den Straßen. Unsere Männer wurden angehalten und auf der Suche nach nationalistischen Tattoos bis zur Taille entkleidet. Sogar wir Frauen und unsere Kinder wurden misstrauisch beäugt. Und so lebten wir in Geiselhaft, bis ich schließlich im Juni mit Hilfe von Sozialarbeiter:innen mit meiner Anastasia ausreisen konnte.“
Mit Tanzstunden den Kriegsleiden entfliehen
Tamara und Anastasia brauchten ganze sechs Stunden, um nach Kharkiv zu gelangen. In Friedenszeiten dauert die Fahrt mit dem Auto eine halbe Stunde. Zunächst kamen die beiden in Liubotyn in einem Wohnheim unter. Im August konnten sie dann in das lokale "Mutter-Kind-Zentrum" übersiedeln. Hier erhielten sie nicht nur Unterkunft, Kleidung und Essen ‒ die Mitarbeiter:innen des Zentrums kümmerten sich auch um die verschreckte Anastasia. Um das Kind von den Wirren des Kriegs abzulenken, ermöglichten sie dem Mädchen und seiner Mutter die Teilnahme an einem Tanzkurs, wo sie klassische Gesellschaftstänze kennen und lieben lernen. Wenn sie über den Tanzunterricht sprechen, leuchten die Augen der beiden. "Damals in Tschkalowske träumten wir davon, tanzen zu gehen, wir hatten dazu jedoch keine Gelegenheit. Hier haben wir noch keine einzige Unterrichtsstunde verpasst.“, freut sich Tamara. Mutter und Tochter sind schon bei Walzer und Cha-Cha-Cha angekommen und haben im Dezember bereits an einer kleinen Aufführung teilgenommen.
Genauso wie die anderen Bewohner:innen des Zentrums haben auch Tamara und Anastasia kein Zuhause mehr, in das sie zurückkehren können. Der Beschuss dauert an, alles ist vermint, die Infrastruktur ist zusammengebrochen. Es gibt weder Heizung noch Strom. Bis auf weiteres werden sie daher in Liubotyn bleiben müssen
Das Zentrum in Liubotyn braucht dringend weiterhin Unterstützung
Damit es auch in Zukunft Mütter mit Kindern aufnehmen und betreuen kann, die ihr Zuhause verloren haben und nirgendwohin zurückkehren können. Die Frauen und ihre Kinder haben sich das alles nicht gewünscht. Nur allzu gerne würden sie ihr altes Leben zurück haben. Doch dieses fand mit dem 24. Februar des Vorjahres vorläufig ein Ende. Helfen wir ihnen gemeinsam, diese schwere Zeit zu überstehen