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Krieg in der Ukraine und das Tschernobyl-Kinder Projekt: "Wir dürfen nicht müde werden!"
Seit 24. Februar herrscht Krieg in der Ukraine. In manchen Teilen des Landes hat sich die Lebenssituation vieler Menschen von angespannt zu dramatisch gewandelt. Umso mehr brauchen die Kinder, die besonders nachhaltig von den Begleiterscheinungen und Folgen des Krieges in Mitleidenschaft gezogen werden, unsere Unterstützung. GLOBAL NEWS hat mit unserer Leiterin der Stiftung „GLOBAL 2000 für die Kinder der Ukraine“ gesprochen.
GLOBAL 2000 für die Kinder der Ukraine
Die Wohltätigkeitsstiftung "GLOBAL 2000 für die Kinder der Ukraine" wurde 2021 als Standbein unseres Projekt Tschernobyl-Kinder in der Ostukraine gegründet. Yuliia Konotoptseva ist Leiterin der Stiftung und sorgt dabei für eine unbürokratische Hilfe vor Ort.
Interview mit Yuliia Konotopseva
GLOBAL NEWS: Liebe Yuliia, seit der Gründung der Stiftung „GLOBAL 2000 für die Kinder der Ukraine“ ist viel passiert. Wie hat sich deine Arbeit für die Kinder seit Ausbruch des Krieges verändert?
Yuliia Konotoptseva: Das Ziel, das wir mit der Gründung der Stiftung angepeilt haben, haben wir erreicht: GLOBAL 2000 ist noch näher an die Kinder herangerückt. Hilfe kommt jetzt noch schneller an. Sobald eine Anfrage vorliegt, arbeite ich unverzüglich mit Ärzt:innen, Eltern, Helfer:innen und Dienstleister:innen zusammen und organisiere schnellstmöglich die erforderliche Unterstützung. Mit dem Krieg ist bei meiner Arbeit jedoch viel Verwaltungsaufwand dazugekommen.
Zeitweise stand ja auch Kharkiv, die Stadt von der aus du arbeitest, unter schwerem Beschuss. Wie ist es dir gelungen, in dieser Zeit den Kontakt zu deinen Schützlingen aufrecht zu erhalten?
Kharkiv hatte leider seit dem 24. Februar keinen einzigen Tag Verschnaufpause, es ist und bleibt ein Hotspot. In dieser Situation muss ich sagen, dass die COVID-19-Pandemie in den letzten Jahren neben dem großen Leid, das sie uns allen beschert hat, ein Gutes bewirkt hat: Die Menschen sind es mittlerweile gewohnt, online zu kommunizieren. Das leistet mir jetzt lebensnotwendige Dienste. Alle nötigen Prozesse lassen sich problemlos aus der Ferne organisieren. Bereits am Tag nach Ausbruch des Krieges habe ich all unsere Partnereinrichtungen von den Internaten, Kindergärten, Heimen und Schulen über unsere Partnerkrankenhäuser online erreicht und mich mit ihnen abgesprochen. Wenig später haben sich die Eltern unserer Schützlinge mit verschiedensten Anliegen direkt an mich gewandt: Hilfe bei der Evakuierung, Versorgung mit lebensnotwendigen Medikamenten, Durchführung dringender Untersuchungen, etc.
Wie erhebst du den Bedarf in den unterschiedlichen Einrichtungen, die GLOBAL 2000 unterstützt?
Ich kommuniziere jede Woche ‒ manchmal mehrmals ‒ mit den Leiter:innen der Institutionen und nehme alle Anfragen auf. Wenn sie sich nicht von sich aus melden, tue ich es. Ich frage, wie es läuft, was sie brauchen. Und ich erhalte täglich Dutzende E-Mails mit dringenden Anfragen und der Bitte um Hilfe.
Du kümmerst dich aber nicht nur um die medizinische Versorgung der Kinder in diesen Einrichtungen, sondern auch um Lebensmittel für einkommensschwache Familien mit Kindern. Wie kommen Medikamente und Essen zu den Leuten?
Mit dem Ausbruch des Krieges hat GLOBAL 2000 beschlossen, sich auch um die Lebensmittelversorgung von Kindern zu kümmern. Wir fokussieren uns auf die Region Kharkiv und Umgebung und arbeiten dazu mit drei lokalen Freiwilligenorganisationen zusammen: „Charkiw Station“, „Erwachsene für Kinder“ und „Ein kleines Feuer“. Diese Organisationen kümmern sich seit langem um Familien mit Kindern in schwierigen Lebensumständen. Derzeit trifft das auf die Mehrheit der Familien in Kharkiv zu. Wir haben Kooperationsvereinbarungen unterzeichnet, treffen uns wöchentlich online und besprechen aktuelle Bedürfnisse. Sie schicken mir offizielle Hilfsschreiben, ich organisiere die Finanzierung der Lebensmittel und sie kümmern sich um deren Verteilung, die sie für mich mit Fotos und Dokumenten belegen. Gemeinsam leisten wir schnelle und punktgenaue Hilfe.
In deiner Funktion als Leiterin der Stiftung bist du aber nicht nur in Kharkiv, sondern in der ganzen Ukraine im Einsatz. Wie funktioniert derzeit die Kommunikation? Reist du herum oder organisierst du alles von Kharkiv aus?
Ich bin zurzeit in Wien. Davor war ich in Poltawa, wo ich bei der Evakuierung von Familien geholfen habe. Ich besuche auch regelmäßig Lemberg und plane gerade eine Reise nach Luzk und Riwne, wo wir Wasserreinigungssysteme installieren. In Kharkiv selbst unterstützen mich die oben erwähnten Organisationen und einzelne Freiwillige sowie das Management und die Mitarbeiter:innen des Kinderkrankenhauses Nr. 16. Ich selber kann leider noch nicht in mein Zuhause nach Kharkiv zurückkehren. Ich wohne im täglich beschossenen Norden der Stadt, wo die Versorgung zusammengebrochen und die Fensterscheiben zerbrochen sind. Ich mag gar nicht daran denken. Jedenfalls findet nahezu die gesamte Projektkommunikation online über Messenger und per Telefon statt.
Wie schätzt du die derzeitige Lage ein: Wie viele Menschen leben noch in den Städten, bzw. Dörfern? Wie viele können noch arbeiten gehen und sich selbst versorgen? Funktioniert das Schulsystem noch? Was ist mit Krankenhäusern, Banken, etc.?
In den Gebieten, die weit von den Kämpfen entfernt sind, funktioniert alles mehr oder weniger normal. Abgesehen natürlich von der ständigen Bedrohung durch Raketenangriffe. Die Zahl der Einwohner:innen in den Städten und Dörfern der Westukraine ist wegen der vielen Binnenvertriebenen stark gestiegen, Arbeitsplätze für sie gibt es aber nicht. Daher hat selbst das wohlhabende Lemberg ein Problem mit der Versorgung von Einwanderern. In Kharkiv hingegen ist etwa die Hälfte der Einwohner:innen abgereist. Es gibt kaum Arbeitsplätze. Diejenigen, die das Glück haben, ihren Arbeitsplatz halten zu können, versorgen sich in den Geschäften mit Lebensmitteln, nehmen Dienstleistungen im Krankenhaus in Anspruch, kaufen Medikamente in den Apotheken.
Ich muss dazu sagen, dass aber auch viele Krankenhäuser mittlerweile geschlossen haben. All jene, die ihren Arbeitsplatz verloren haben oder in den Stadtteilen im Norden und Osten der Stadt leben, haben es wirklich schwer – sie können keine Waren und Medikamente kaufen, weil sie entweder kein Geld dazu haben oder weil es in ihrer Gegend keine Infrastruktur mehr gibt. In die Innenstadt zu fahren, ist oft auch keine Option, da auch die öffentlichen Verkehrsmittel nur teilweise funktionieren. Kharkiv ist sehr groß, nach inoffiziellen Angaben leben dort mehr als 2 Millionen Einwohner:innen, das Gebiet ist riesig. Von einem Ende zum anderen beträgt die Entfernung bis zu 30 Kilometer. Viele Familien haben kein Geld, um für sich und ihre Kinder zu sorgen. Das Bankensystem funktioniert teilweise nur online, es sind nur wenige Filialen geöffnet. Auch die Schulen sind geschlossen. Seit dem 24. Februar findet Schulunterricht ausschließlich online statt. Viele Schulgebäude wurden durch russische Angriffe zerstört und können auch nach Kriegsende in naher Zukunft nicht wiedereröffnet werden.
Wie sieht es mit der Betreuung der installierten Wasserreinigungsanlagen aus, die auch in deiner Zuständigkeit liegt? Wie wichtig ist es derzeit überhaupt, weitere Anlagen zu installieren?
Das ist jetzt sehr wichtig. Die Gemeinden im Westen der Ukraine haben so viele Vertriebene aufgenommen. Die Menschen wurden in Schlafsälen, Schulen und verschiedenen öffentlichen Einrichtungen untergebracht. Sie alle müssen mit sauberem Trinkwasser versorgt werden. Bereits im Frühjahr haben wir umdisponiert. Jene Wasseraufbereitungsanlagen, die für die Regionen Kharkiv und Luhansk bestimmt waren, gehen jetzt an jene zwölf Einrichtungen in den Regionen Lemberg, Riwne und Wolhynien, die die meisten Flüchtlinge mit Kindern aufgenommen haben. Die Anlagen werden jetzt auf der Basis der ermittelten Analysedaten eigens hergestellt und ich halte Kontakt mit den Institutionen.
Und wie geht es dir persönlich?
Das ist eine Frage, die ich seit Monaten gleich beantworte: „Ich weiß es nicht.“ Ich kann mein Leben nicht planen, ich habe kein Zuhause, meine Familie ist in zwei Teile gerissen, das ist unerträglich. Aber ich habe das Glück, bei GLOBAL 2000 zu arbeiten. Ich habe wunderbare Kolleg:innen und Freund:innen in Wien, die mich mental unterstützen. Ich als eingefleischte Pazifistin kann einfach nicht verstehen, dass es im 21. Jahrhundert mit all den modernen Technologien die ganze Welt nicht schafft, einen wahnsinnigen Diktator zu stoppen. Ich weiß noch nicht, wie ich mit dieser neuen Realität leben soll.
Möchtest du den Unterstützer:innen des Projekt Tschernobyl-Kinder etwas mitteilen?
Ja, in erster Linie möchte ich mich im Namen der ukrainischen Kinder bei Ihnen allen ganz herzlich bedanken. Und ich will Ihnen versichern, dass nichts, wirklich gar nichts ‒ weder der Krieg, noch persönliche Umstände oder Naturkatastrophen unser Ziel ändern werden, den Kindern zu helfen.
Leider macht auch der Krebs für Kinder im Krieg keine Ausnahme, er kommt einfach. Gestern habe ich mit der Chefärztin des Kinderkrankenhauses Nr. 16 gesprochen. Sie hat mir gesagt, dass sie wieder neue kleine Patient:innen aufgenommen haben, die noch heute unsere Hilfe brauchen. Es gilt also, nicht nachzugrübeln warum, wieso, weshalb, sondern die Ärmel aufzukrempeln und stark zu sein. Für die Kinder. Wir dürfen nicht müde werden, wir müssen weiterhin helfen.